Eigentlich kann ich keinen Live-Stream, kein Geisterkonzert, keine Online-Performance mehr sehen. Nach wochenlangen Corona-Maßnahmen habe ich genug davon, mir Kunst auf einem 15-Zoll-Display anschauen zu müssen. Für Alexander Schuberts Genesis mache ich eine Ausnahme. Warum? Das Projekt ist kein unglücklicher Versuch, eine künstlerische Darbietung qua Besser-als-nichts-Kompromiss von der Bühne ins Internet zu verlagern. Sondern war von vorn herein so geplant. Denn Genesis ist nicht nur Performance, sondern auch Computerspiel.

Der in Hamburg lebende Erfinder des Spiels Alexander Schubert ist Komponist und Medienkünstler. 1979 geboren, entwickelt er seine Projekte oft in Kooperation mit anderen Künstler*innen und setzt dabei auf Elektronik, Video und digitale Medien. In den letzten Jahren hat er vermehrt das Konzept der Virtual Reality in seine Arbeiten einbezogen. So auch in sein partizipatives Projekt Genesis, das sich an der Schnittstelle zwischen analoger und digitaler Welt abspielt. Vom 27. April bis zum 3. Mai fand es statt. Schubert hat hier ein Team von Performern, Szenographen, Dramaturgen, Videokünstlern und Webdesignern im Hamburger Kraftwerk Bille versammelt.

„Wenn man ein Ticket hat“, so Schubert, „und sich als Spieler*in anmeldet, loggt man sich als erstes über den Browser ein. Ab diesem Moment schaut man durch eine Kamera – gewissermaßen durch die Augen eines Avatars. Diese Avatare befinden sich in einer leeren Halle. Man sieht, was sie sehen. Und man kann ihnen dann über sein Mikrofon am Computer sagen, was sie in dieser Halle tun sollen. Das Besondere ist, dass die Avatare echte Menschen sind, die 24 Stunden, sieben Tage lang in dieser Halle leben.“

Alexander Schubert _ Genesis _ Foto by Gerhard Kühne

Auch ich habe ein Ticket für einen einstündigen Slot, bei dem ich von meinem heimischen Computer aus in den Körper einer anderen Person schlüpfen kann. Bevor es losgeht, frage ich Alexander Schubert, ob es irgendeine Mission gibt, die ich zu erfüllen habe. „Es gibt keine Regeln“, sagt er, „keine Dramaturgie, keine Idee für den Verlauf. Aber es gibt 3000 Gegenstände, die über ein Inventar auf der Internetseite gebucht werden können. Und was damit passiert, ist völlig frei. Du kannst entscheiden, welche Gegenstände Du auswählst und wie Du sie benutzen möchtest. Auch ich selbst weiß überhaupt nicht, was passieren wird.“

Es geht los: Das erste, was ich auf dem Bildschirm sehe, sind die Hände meines Avatars. Die Anzeigen für Hunger, Durst und Müdigkeit am Rand sind beruhigend niedrig. Als ich zur Sicherheit noch einmal frage, ob es dem Avatar gut geht, antwortet er mit einer Textnachricht: einem simplen „Ja“. Ich bin erleichtert und bitte ihn, mir einmal in Ruhe den Ort zu zeigen, an dem ich mich, an dem wir uns befinden. Bei diesem ersten Rundgang durch die Halle begegnen mir ein Sofa, ein Heizstrahler, einige lose herumliegende Werkzeuge, ein halb aufgebautes Regal und eine große Stoffbahn, auf die jemand Leave no one behind gesprayt hat. Außerdem höre ich Musik. Offenbar hat ein anderer Spieler eine CD aus dem Inventar bestellt und aufgelegt. „Es gibt ansonsten keinen Soundtrack“, erklärt Alexander Schubert, „auch keine Begleitmusik oder ähnliches. Das heißt: Ich habe für das Projekt keinen Ton komponiert. Die einzigen musikalischen Ereignisse, die passieren, sind die Dinge, die die Avatare selbst tun. Oder anders gesagt: Die Möglichmachung von musikalischen Inhalten basiert ausschließlich auf der Bereitstellung von Musikinstrumenten.“

Tatsächlich entdecke ich im Inventar mehrere Bilder von akustischen und elektronischen Klangerzeugern. Über einen Mausklick bestelle ich eine E-Gitarre. Kurz darauf zieht mein Avatar das Instrument aus einer Luke. Ich versuche ihm zu erklären, wie er einen Akkord spielt. Allerdings verlässt mich schnell die Geduld, als ich merke, wie mühsam es ist, die Position für jeden einzelnen Finger zu beschreiben. Da beobachte ich lieber eine Weile, wie zwei der anderen Avatare in einiger Entfernung wild mit Geige und Klavier improvisieren. „Was ich daran spannend finde“, sagt Schubert, „ist, dass es etwas mit Körperlichkeit zu tun hat. Sprich: Wie sehr brauche ich meinen Körper, um etwas zu spüren, zu erleben? Wie hat Emotion, Nähe, Persönlichkeit damit zu tun, dass ich körperlich anwesend bin oder nicht? Gleichzeitig hat es auch etwas mit Kontrolle zu tun. Und das sind, wie ich finde, gesellschaftliche Themen, die grundsätzlich interessant sind, auch im Hinblick etwa auf Arbeitskräfte, auf Soldaten und so weiter.“

Alexander Schubert _ Genesis _ Foto by Gerhard Kühne

Die einstündige Spielzeit ist im Nu vorbei. Zugegeben: Ich habe mich nicht uneingeschränkt wohl gefühlt. Weder kam es mir so vor, als sei ich selbst die Person mit der Kamera auf dem Kopf, noch hatte ich den Eindruck einer Teamarbeit im Duo. Vielmehr gab es ein starkes Hierarchiegefälle, bei dem jemand anderes bereit war, alles zu tun, was mir in den Sinn kam. Eine sonderbare Mischung aus Befremdung und Rührung bleibt bei mir zurück. Die Rührung – und auch Be-Rührung – offenbart sich mir vor allem darin, dass ich noch mehrere Tage nach meinem Spiel-Slot immer wieder in den Live-Stream schaue, bei dem man das Geschehen in der Halle auch als Außenstehender beobachten kann. Ich kann also in Echtzeit mitverfolgen, wie sich der Raum nach und nach füllt und im Laufe der Zeit tatsächlich zu einer Art Fantasiewelt mutiert.

Ganz offensichtlich habe ich eine Beziehung zu diesem surrealen Ort und den darin lebenden Menschen aufgebaut. Ich kann mich kaum lösen, finde mich regelmäßig vor dem Rechner wieder und beobachte fasziniert, wie die Avatare [auch miteinander] agieren. Diese Form der Verbindlichkeit und Eingewöhnung in eine virtuelle Welt erinnern mich an das Computerspielen in meiner Kindheit. Und auch optisch gibt es Parallelen: Auf Tischen und in manchen Ecken liegen Gegenstände nebeneinander herum, die teils vollkommen deplatziert wirken, darunter Werkzeuge und Material, das in irgendeiner Weise als Anzuwendendes identifizierbar ist – Dinge also, die man möglicherweise an anderer Stelle noch einmal für irgendetwas braucht, um im Spiel voranzukommen. Solche rätselhaften Ansammlungen von Gegenständen und ihre optische Wirkung sind typisch vor allem für Point-and-Click-Adventures.

Alexander Schubert _ Genesis _ Foto by Gerhard Kühne

„Natürlich hat dieses Projekt“, sagt Alexander Schubert, „Qualitäten von einem Experiment, von einem Versuch. Es geht aber auch darum, etwas abzubilden; nämlich wie Menschen miteinander umgehen, was sie für eine Welt schaffen wollen. Wovon also träumen sie, was wollen sie realisieren, wie verstehen sie diesen Raum? Und dann hat es natürlich auch mit dieser Kontrolle eines Menschen über den Avatar zu tun, und mit der Frage: Was ist die soziale Dimension davon?“

Diese Frage stelle ich mir auch. Ich frage mich, was mein Avatar in den sieben Spieltagen wohl denkt. Mochte dieser Mensch meine Stimme? Ist er genervt von der Kamera auf dem Kopf? Empfindet er Unbehagen durch die Fremdbestimmung? Und werden wir uns jemals im echten Leben begegnen? Eines jedenfalls ist klar: Die Einsamkeit vorm Computer, die mich während der Corona-Maßnahmen immer wieder heimsucht, ist lange nicht so sehr in den Hintergrund getreten wie beim Spielen von Genesis. Ein schönes Intermezzo im gleichförmig gewordenen Alltag für mich – für Alexander Schubert vermutlich ein Erfolg. Vor allem aber war es Glück, dass dieses Projekt passenderweise in die Zeit der Corona-Lockdown-Maßnahmen fiel. Alles konnte wie geplant stattfinden, während so gut wie alle anderen künstlerischen Initiativen implodiert oder notgedrungen – und oft mehr schlecht als recht – ins unübersichtliche Internet abgewandert sind.

Den Kompromiss der Streaming-Darbietungen sind einige [wenige?] Künstler*innen nicht eingegangen. Ihnen waren ihre Projekte zu wertvoll, um sie einfach kostenlos in irgendeinem Wohnzimmer für ein unsichtbares und völlig anonymes Publikum zu verpulvern. Eine verständliche und möglicherweise auch sinnvolle Entscheidung. Denn abgesehen davon, dass bei einem Online-Konzert, das eigentlich als Live-Konzert gedacht und konzipiert war, etliches verloren geht, das Kunsterfahrung ausmacht, sendet das viele Streamen falsche Signale an die Politik. Es vermittelt im Schlimmstfall, dass eine derart beschnittene Arbeitsgrundlage von Künstler*innen nur ein unbedeutendes, durchaus handhabbares Problem darstellte. Und diese Schlussfolgerung wiederum raubt der Kunst ihren Nährboden. Natürlich waren und sind die Corona-Maßnahmen ein Ausnahmezustand für jede und jeden – ob Künstler*in oder nicht. Und natürlich war vieles von dem, was in den letzten Wochen und Monaten passiert ist, sicherlich notwendig, um uns vor Dramatischem zu schützen. Doch anstatt sich in einem Bereich, der gerade von etlichen mit den Corona-Maßnahmen nicht zu vereinbarenden Faktoren lebt, nach allen Kräften zu verbiegen, um noch einen Rest von Präsenz zu behalten, wäre es möglicherweise cleverer, die Leerstelle eine Weile lang auszuhalten. Denn erst so lässt sich gezielt auf sie aufmerksam machen. So würde der Gesellschaft demonstriert, was uns fehlte, würde die Kunst einfach plötzlich verschwinden.

Leonie Reineke

 

Über die Autorin: Leonie Reineke ist Redakteurin für neue Musik beim Südwestrundfunk und freie Autorin und Moderatorin für die Kulturprogramme von ARD und Deutschlandradio. Schwerpunkte ihrer Arbeit sind die Musik der Gegenwart und die jüngere Künstlergeneration. 2018 erhielt sie den Reinhard-Schulz-Preis für zeitgenössische Musikpublizistik.