Markiert die Corona-Pandemie auch eine Zeitenwende in unserer Art des Zusammenlebens, die endgültige Auswanderung ins Digitale? Der Konstanzer Literatur- und Kulturwissenschaftler Albrecht Koschorke hat in der ZEIT die Vermutung geäußert, die gegenwärtige Krise werde „beschleunigen, was ohnehin schon im Gang ist“: Den Machtzuwachs der großen Digitalkonzerte. Den „Niedergang des Kleinunternehmertums einschließlich der Prekarisierung derjenigen, die davon leben“, hier darf sich die freie Kulturszene wohl auch mit gemeint fühlen, falls sie sich bisher noch nicht als prekär empfunden hat. Und schließlich die „Einübung der Umgangsweisen eines kühleren und berührungslosen geselligen Verkehrs“.

Foto: Daniel Mennicken

Alles das ist natürlich nicht unrealistisch. An entscheidender Stelle greift Koschorkes Argumentation aber zu kurz. Der von der Bundesregierung eingesetzte „Wissenschaftliche Beirat Globale Umweltveränderung“ (WBGU) hat sich in seinem Gutachten aus dem vergangenen Jahr intensiv mit der Digitalisierung beschäftigt. Die aus unterschiedlichen Fachrichtungen kommenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beschreiben sie als eine Dynamik, „die den Menschen, die Gesellschaften und den Planeten zunehmend fundamental beeinflusst und“ – hier wird es jetzt interessant – „daher gestaltet werden muss“. Die Digitalisierung ist also kein Zug mit festgelegtem Fahrtziel, auf den man entweder aufspringt oder ihm, zurückgelassen auf dem verödeten Bahnsteig, hinterherblickt. Wenn man im Bild bleiben will, könnte man sagen, es gehe jetzt vielmehr darum, wieder das Steuer des mit hoher Geschwindigkeit fahrenden Gefährtes zu übernehmen und die Weichen richtig zu stellen. Es braucht, so der Titel der ambitionierten Studie, eine „gemeinsame digitale Zukunft“.

Für die Kulturszene waren die vergangenen Wochen eine zweischneidige, aber deswegen vielleicht auch aufschlussreiche Erfahrung. Einerseits waren die digitalen Medien und Dienste enorm hilfreich. Sie haben Nähe und Kooperation ermöglicht, wo äußerlich Distanzhalten angesagt war und sie waren die Basis meistens ziemlich spontaner musikalischer Lebenszeichen. Gerade die Early Adopter wie der Pianist Igor Levit (wobei man sich fragen kann, warum ihm auch nach Wochen niemand ein besseres Mikrofon geliehen hat) haben auf diesem Weg große Aufmerksamkeit erhalten und – man kann es nicht abstreiten – wirklich etwas bewegt.

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Andererseits ist aber auch deutlich geworden, wofür die digitalen Kanäle nicht geeignet sind. Hier geht es nicht nur um den Allgemeinplatz, dass sie reale Präsenz und Begegnung nicht ersetzen können. Das Interesse daran wird, trotz einer gewissen Verstörung durch das Virus, sicher nicht einfach erlöschen, während eine Sättigung im Hinblick auf Streamingkultur bereits spürbar wird. Bereits in den letzten Jahren ist außerdem deutlich geworden, dass die digitalen Erfolgsgeschichten, die wir alle vor Augen haben, oft nicht reproduzierbar sind, sondern nur erfolgreich Nischen besetzen. So wie Musikerinnen und Musiker aus dem Feld der Zeitgenössischen Musik kaum alle wie @igorpianist gleich zum Bundespräsidenten eingeladen werden dürften, so ist damals auch die große Crowdfunding-Revolution ausgeblieben, nachdem Radiohead 2007 ihr Album In Rainbows erfolgreich mit dem „Zahle was du willst“-Ansatz vermarktet hatten. Seien wir ehrlich: Wer ist bisher schon bereit, für eine Eintrittskarte zu einem digitalen Event ins Portemonnaie zu greifen? Doch „umsonst ist einfach zu billig“, wie Martin Hufner gerade in der nmz geschrieben hat.

Es genügt hier aber nicht, über Gratiskultur und „Geiz ist geil“-Mentalität im Netz zu schimpfen. Man übersieht dann, dass eine kulturelle Produktion, wie spannend und innovativ sie für sich genommen auch immer sein mag, eben als Ereignis schon weitgehend festgelegt ist, wenn sie eine der etablierten digitalen Umgebungen nutzt. Wenn man wie Igor Levit ein Konzert über Twitter als Stream verbreitet, dann wird es auch anhand der Oberflächen und Logiken dieser Plattform wahrgenommen werden. Das muss nicht per se schlecht sein. Aber relativ unabhängig von den digitalen Medien, von denen man absolut unabhängig natürlich kaum noch sein kann, geht es in vielen künstlerischen Strömungen der Gegenwart ansonsten eigentlich darum, den Rahmen für das, was man tut, sehr weitgehend selbst zu bestimmen.

Der Friedenspreisträger Jaron Lanier, einer der Pioniere der Virtual Reality, betont schon seit einiger Zeit, man habe mit den neuen Technologien anfangs die Welt bereichern wollen und nicht, wie inzwischen, kolonisieren. Das Digitale solle ein Tool sein, um das zu erreichen, was wir wirklich wollen, nicht ein vorgezeichneter Weg, auf den wir mit einschwenken. Etwas als Werkzeug zu benutzen heißt natürlich auch, es gelegentlich einfach wegzulegen. Damit ist kein digital detoxing gemeint, das doch nur ein romantischer Eskapismus bleibt, sondern ein souveräner Umgang mit Technologie. Wenn Musikerinnen und Musiker das Digitale als Parameter verstehen, angeordnet auf einer Skala von Null bis Zehn, dann soll der Regler gern bis auf Zehn (oder auch Elf) hochgezogen werden, der Kanal bei Bedarf aber einfach stummgeschaltet werden können.

Vielleicht sind die wichtigsten Neuerungen, die in der zurückliegenden Zeit entstanden sind, auch gar nicht die digitalen Formate. Sondern eher so etwas wie ein dank digitaler Kommunikation ganz kurzfristig verabredetes Hofkonzert, dem die Anwohnerinnen und Anwohner von ihren Balkonen aus zuhören können. Wie sähe eine „Kulturambulanz“ aus, die solche sozialen Innovationen zu verbreiten hilft? Der WDR hat dieses Stichwort bereits aufgegriffen, zunächst aber doch nur um das zu tun, wofür er als „Sendeanstalt“ eben bisher vor allem da ist: übertragen. Im Kontext der Pandemie und darüber hinaus wären Ansätze gefragt, die digitale Medien selbstverständlich einbeziehen, aber nicht einfach in diese ausweichen.

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Falls Großveranstaltungen noch auf absehbare oder sogar unabsehbare Zeit ein Problem darstellen, sollte das für die freie Szene keine schlechte Nachricht sein. Sie war auch bisher nicht groß, sie ist die Spezialistin für kleine Ensembles und überschaubares Publikum und sie bringt kreative Formate hervor, die dezentral, mobil und im Sommerhalbjahr unter freiem Himmel funktionieren, wo die Ansteckungsgefahr erheblich geringer, die Welt aber näher ist. Statt Streaming-Monopolen kommt dann die nächste Stufe im „Mainstream der Minderheiten“, von dem Tom Holert und Mark Terkessidis schon in den neunziger Jahren geschrieben haben. Auch die Zeitgenössische Musik könnte darin einen neuen Platz finden.

Wenn die Corona-Pandemie eines aufgezeigt hat, dann ist es die Tatsache, dass wir nicht einfach die Gefangenen von unabänderlichen Sachzwängen sind. So sieht es zumindest der Soziologe Hartmut Rosa, der gewissermaßen zum bewussten Staunen über die zuvor unvorstellbaren Veränderungen seit dem März diesen Jahres aufgefordert hat: „Aber es war ja nicht das Virus, das uns angehalten hat. Das Virus holt keine Flugzeuge vom Himmel, legt Fabriken still oder sagt Konzerte ab. Das war politisches Handeln. Eine Lehre, die wir bereits jetzt aus der Krise ziehen können, ist: Wir sind immer und sehr stark politisch handlungsfähig.”

Alexander Kleinschrodt

 

Über den Autor: Alexander Kleinschrodt ist Kulturwissenschaftler, Vermittler, Lehrbeauftragter zweier Hochschulen und lebt (gerne) in der Megacity Rhein-Ruhr. Er schreibt seit 15 Jahren über Neue Musik und inzwischen auch über Architektur, Landschaft und Nachhaltigkeit.