Ein schräg einfallender lauter Sinuston schneidet das Duett Himeros plötzlich entzwei. Gerade noch hatten sich die Harfenistin Mirjam Schröder und Rie Watanabe am Schlagzeug ausgiebig rhythmisch hochvertrackte Fragmente zugeworfen und die Dynamiken des Abends Fahrt aufgenommen, da kommt der Eingriff aus den Lautsprechern wie eine gnadenlose Demontage daher. Was macht das mit der Musik, die eben begonnen hat, sich dem bis hierher Werkzeughaften zu entwinden?

Fotos: Anna Schneider

Der Komponist Roman Pfeifer inszeniert mit Pythagorean Triple ein Fenster zum Denken des antiken griechischen Philosophen, das dessen Bild von klanglichen und mathematischen Verhältnissen offenlegen will. Als „Spurensuche“ betitelt, lässt Pfeifer die drei Akteure, zu denen außerdem Constantin Herzog am Kontrabass zählt, über die Bühne schreiten, gleiten oder auf ihr warten, sich verstecken oder verschwinden, in allen Konstellationen vom Solo zum Trio stets auf einem neuen Fleck der Bühne auftreten. Dabei sind es Bewegungen wie auf einem Schachbrett, stets gezielt und besonnen, und doch auf eine merkwürdige Weise statisch. Denn es sind Aufgaben, die zu erfüllen sind inmitten dieser Schau aus Form und Instrumenten: Da, wo alles penibel angeordnet, jeder Klangkörper zweifach vertreten ist, wo auf dem Boden liegende Steinchen zu obligatorischen Drei- und Rechtecken zusammengelegt werden, bahnen sich die Spieler ihre vorgefertigten Wege mit einer Kühlheit, die fragen lässt, worin der Sinn des Zuschauens eigentlich besteht. Da, wo Schachfiguren schweigen, vollführen die Musiker räumlich inszenierte Pausen zwischen Stücken, die eigentlich auch für sich sprechen können.

Die Konzentration dieses reinen Hörens erfahren beide Seiten in den Zuspielungen, die mehrfach zwischen den Kompositionen auftauchen, ja einfach aus dem Off eindringen. Mit ihnen öffnet sich der Raum, erfährt eine Ironie, die doch genauso auch nur eine Überhöhung dieser Kühlheit ist, denn die Zuspielungen selbst sind auch Teil dieser Mathematik: In Pfeifers eigene Komposition a pythagorean computation schaltet sich eine synthetische absteigende Tonskala ein, die das laufende Duell zwischen Bass und Schlagzeug persifliert. Und Nicolaus A. Hubers Himeros wird zerrissen von einem Sinuston, der übertönen will, was gerade erst begonnen hat, sich zu entwinden.

Watanabe nimmt sich dieser auskomponierten Entwindung an. Zu Anfang aber nimmt sich Himeros, die mythologische Sehnsuchtsgestalt, Zeit – sie verbleibt lange ohne Bezug, nur zergliedert. Dann schimmert in der Harfe doch ein Debussy durch und schnell gezupfte Tröpfchentöne lassen das Saitenspiel sehr klar in seiner Tradition erscheinen. Watanabe hingegen tritt mehr und mehr aus ihrer geraden, gar gebückten Haltung heraus und wendet sich dem Schlaginstrumentarium zu, das über ihr hängt, spielt seitwärts und agiert immer spontaner und ausschweifender. Und so ist dieser Aufwind der erste – und der einzige – im Laufe des Abends, der das Schachfigurentum langsam ausblendet. Für die Dauer des Stückes ändert auch der Sinuston daran wenig. Aber er erinnert daran, dass die Formelhaftigkeit den Abend beherrscht.

Pfeifers Suche nach Pythagoras in der Setzung von Musik und den Wegen um sie herum will eine mathematisch-akusmatische sein. Ist somit alles gesetzt? Die Programmdramaturgie wird mit jedem Stück ein Stück metaphysischer – von Giacinto Scelsis Okanagon (dem Herzschlag der Erde) zu Macarena Rosmanichs Dunst geht der Weg durch die Erdkruste zum Wasser, dessen Aggregatzustand mal mehr, mal weniger Volumen zulässt. Vor allem aber regiert in Dunst die Stille, die sich hier und da aufreißen lässt von Tröpfchen, die die Harfe diesmal im Holz erzeugt. Die folgende Komposition von Pfeifer im Dreiertakt simuliert einen unwilligen Tanz, der immer wieder ins reine Rhythmusticken kippt und Hubers Sehnsuchts-Stück weist bereits auf seelische Weiten, die sich in Elnaz Seyedis Abschlusswerk 2910 dem Zukunftshimmel überlassen. In die Übergänge treten Improvisationen oder Computerkommentare, die in sich eine separate dramaturgische Linie ziehen: Es beginnt mit dem grazilen Spiel auf dünnen Gläsern und geht über Hammerschläge auf Stein zu den nüchternen gestaltlosen Toneinfällen. Der Abend beginnt hinter einem Vorhang und endet vor ihm – als Nachahmung von Pythagoras‘ verdeckt vermitteltem Erklärungsmodell, wie sich die Verhältnisse von Klängen darstellen, und als Offenlegung vor ebenjenem Hintergrund. Akusmatik und mathematische Klarheit als Pole dieses Konzerts. Und als Verbindung in seiner Mitte, umgesetzt auf einer Bühne, die in der Anordnung des Instrumentariums die Form zweier pythagoräischer Dreiecke annimmt.

Die Spuren, die Pfeifer hier legt, führen den Zuschauer vor vollendete Tatsachen. Nichts verbirgt sich hinter dem Vorhang, was nicht auch vor ihm unvermittelt spricht. Je länger Pfeifers Konzept wirkt, umso klarer wird, dass nicht Pythagoras‘ Fußabdrücke die Bühne säumen, sondern Pfeifers. Denn seine Formelhaftigkeit wird in einer Geradlinigkeit und – trotz einiger weniger Ausbrüche – einer Unerschütterlichkeit gezeigt, die den Inhalt verändert. Omnipräsenz und Lückenlosigkeit führen zur Aushöhlung. So hochgradig ästhetisch Bühnenbild und Idee, so fein das Musizieren und die Wechselspiele auch sind – sie sind zu stilisiert und verharren somit in einer Selbstfixierung und Genügsamkeit, die nicht weiter wissen. Pfeifers Inszenierung mag aufgehen, doch sie spricht von etwas anderem als der Titel verspricht. Sie gibt wieder, nimmt all die Symmetrien allzu ernst. Und verpasst so die Chance zur Entwindung aus den doch ohnehin so klaren Verhältnissen.

Anna Schneider