Das erste, was ich von der Krise höre, ist nichts. Ich lebe in einer kleinen Wohnung in einer Großstadt an einer vielbefahrenen Straße. Am 11. März lese ich in der Zeitung den Appell der Bundeskanzlerin an die Bevölkerung, das Möglichste gegen die Ausbreitung des Virus zu tun. Am 13. März schließen Schulen und Kitas. Das Hochschulsemester wird ohne zu Blinzeln in die Virtualität verlagert. Am 16. März schließen Bars, Kinos und Freizeiteinrichtungen. Gottesdienste werden ausgesetzt. Ich höre nichts. Seit fünf Tagen ist die Straße verstummt, die Pizzeria und die Kneipe unten im Haus sind verriegelt, ihre Gäste daheim.

Der Begriff Soundscape beschreibt die Gesamtheit aller akustischen Erscheinungen eines bestimmten Ortes, Raums oder einer Landschaft. Ein Zeltlager in der Wüste klingt anders als ein Dorf am Meer. Hongkong klingt anders als Bangkok. Porz anders als Porto. Wälder, Gebirge und Klima können den Klang eines Ortes ebenso beeinflussen wie Religion, Architektur oder Bevölkerungsdichte.[1] Während einer Pandemie klingt alles anders. In einer bestimmten Soundscape kann man zentrale Werte einer Gesellschaft hören, „Auskunft erhalten über (…) Prioritäten, Defizite, Machtstrukturen und ihren ökologischen Zustand“[2]. In der Stille meiner Wohnung kann ich hören, dass am 17. März eine weltweite Reisewarnung ausgesprochen wurde, dass die Europäische Union Einreiseverbote verhängte und wenige Tage später die ersten Ausgangsbeschränkungen erlassen wurden.

Irgendwann kam der Klang zurück. Mittlerweile rauscht die Straße wieder, Autos hupen und manchmal bleibt eines an der Ampel stehen und aktuelle Chartmusik dröhnt durch das geöffnete Beifahrerfenster in mein Zimmer. Trotzdem klingt dieser Frühling anders als in den Jahren vorher. Was hören wir in der Krise? Wie klingt die Corona-Welt mittlerweile? Und was verraten uns diese Klänge über uns, die Musik und die Welt?

Bernedetta Reuter NXNW Festival 2015 Foto: Daniel Mennicken

Zunächst: Wie klingt Neue Musik in der Krise? Erst einmal gar nicht, denn die meisten Konzerte wurden nach und nach abgesagt. Zunächst hoffte man auf den 20. April, der erste Stichtag, bis zu dem die meisten Präsenzveranstaltungen und Aufführungen verschoben wurden. Vielleicht ändert sich danach die Welt? Sie tat es nicht. Radiosender ersetzten ausgefallene Übertragungen von Konzerten durch Archivaufnahmen und relativ schnell wurde deutlich, dass auch in naher Zukunft keine Publikumsveranstaltungen stattfinden werden. Die Biennale für Neues Musiktheater wich im Mai ins Internet aus: Die Bühnenpremiere von Schorsch Kameruns M – Eine Stadt sucht einen Mörder (Wer hat Angst vor was eigentlich?) wird dreiteilig als Hörspiel auf Bayern 2 und der BR Kultur-Bühne übertragen. Die meisten übrigen Arbeiten wurden verschoben. Die Biennale, so heißt es auf der Webseite, nutze das Internet „in erster Linie, um Impulse für spätere, physisch reale Aufführungssituationen zu geben. Wir gehen davon aus, dass im Laufe der nächsten achtzehn Monate viele der für die Biennale 2020 geplanten Inszenierungen das Licht der Welt erblicken werden“ – heißt im Klartext: warten und hoffen. Bis die Konzerte in leiblicher Ko-Präsenz nachgeholt werden können, haben die allermeisten Inszenierungen sogenannte Begrüßungsvideos verfasst. Statt Fabià Santcovskys Oper Transstimme kann man auf der Facebookseite der Biennale ein achtminütiges Video sehen, in der das Team um den Komponisten zeigt, wie das Musiktheaterstück ausgesehen hätte. Das steht zumindest in der Beschreibung.[3]

In der Soundscape der Biennale lassen sich nicht nur die Auswirkungen der Pandemie auf den Kulturbetrieb erkennen. Vielmehr können in diesen Videos auch die Vorstellungen erkannt werden, die sich der Neue Musik-Betrieb über ihr Publikum oder die Musik selbst macht. In den Videoinszenierungen fällt zunächst auf, dass sie viel kürzer sind als die geplanten Musiktheater. Im Schnitt bewegen sich die Begrüßungsvideos in einer Länge zwischen drei und fünf Minuten. Dabei variieren die Inhalte: Das Team um Subnormal Europe [Konzept / Komposition/ Dramaturgie / Regie / Kostüm / Text /Video- & Audioproduktion: Óscar Escudero, Belenish Moreno-Gil] hat einfach aufgegeben, irgendeine bildliche oder klangliche Entsprechung zum Stück zu finden. Escudero und Moreno-Gil lesen, ganz in weiß gekleidet, die Zusammenfassungen des Inhalts vor und beschreiben die Idee der Inszenierung in sehr vagen Worten. Neue Musik gibt es hier mit den Möglichkeiten einer komplexen Bühneninszenierung – oder halt gar nicht. Große Reise in entgegengesetzter Richtung [Komposition: Yair Klartag, Anda Kryeziu, Tobias Schick, Katharina Vogt] und Transstimme verwenden ähnliche Mittel, um eine Vorschau auf ihre Arbeiten zu geben: Auch hier gibt es einführende Worte der Komponist*innen, dann wechselt die Bildebene und zeigt ihr Notenmaterial, Bühnenpläne, Notizen und Skizzen – Transstimme gibt zudem einen soundtechnischen Einblick in die Konzeption durch Klangregisseur Alexis Baskind. Dieser erzählt, dass das Stück mit elektroakustischen Instrumenten arbeite, die die Stimme des Hauptcharakters künstlerisch erweitern sollen. Dazu sieht man einen Bildschirm mit unterschiedlichen Programmfenstern, gefüllt mit kompliziert aussehenden Filtern, Klangkurven, blinkenden Balken- und Gradmessern. Wer diese Hauptfigur ist, was das alles ist oder soll, klingt oder macht, bleibt ungeklärt. Und auch, wenn das dargestellte Material von Große Reise haptischer und dadurch zugänglicher erscheint [ausgedruckte Bühnenbildplanung, Fotos vom Bühnenraum, Computerbildschirm, weiße Papiere mit einzelnen Sätzen], wählen doch beide Inszenierungen sehr konservative Wege der Übersetzung: Neue Musik besteht vor allem aus [Noten-]Material und elektroakustischen Klängen. Zudem scheinen diese Elemente auch eine Art Beglaubigung darzustellen: Seht her, wie viel ich schon gearbeitet und produziert habe. Ein Stück hat ein Thema oder eine Idee und diese erschließt sich nicht von selbst, sondern muss erklärt werden: Von den Komponist*innen, von wem denn sonst, und zwar mit großen, vagen Worten. Und das Publikum? Um es mit den Worten von  Ole Hübner, Thomas Köck und opera, opera, opera! revenants & revolutions zu sagen: „das publikum / saß immer da / wo es sitzen sollte“[4], denn trotz der vermeintlichen Zugänglichkeit und Barrierefreiheit des Internets hat es besser zu wissen, wie ein Filter aussieht und wie man eine Partitur liest.[5] Und wenn es das schon nicht kann, soll es bescheiden und demütig im Angesicht seines Unwissens verharren und hören, was ihm da gezeigt, aber nicht erklärt wird und dann beizeiten seine Karte für die ‚echte‘ Aufführung erwerben, seinen Platz im ‚echten‘ Zuschauerraum einnehmen und stumm und konzentriert in der Dunkelheit sitzen und lauschen. So verfestigt sich der Eindruck: „[…] hier / wurde einander zugehört / aber eigentlich / hat noch niemals jemand irgendjemanden hier oder / anderswo / wirklich / gehört“[6].

Und wie klingt die Gesellschaft in der Krise? Im Andauern der Pandemie wurde der Schulbetrieb Ende April schrittweise wieder aufgenommen, erst nach dem Spielbetrieb der Bundesliga begann am 18. März die Öffnung der ersten Kindertagesstätten. Dass die Krise vor allem Frauen benachteiligt, ist mittlerweile bekannt: „Seit der Schließung von Kindergärten und Schulen sind es vor allem die Mütter, die ihre Kinder betreuen und mit ihnen lernen“[7], hält etwa Caroline Berghammer an der Universität Wien fest, und Jagoda Marinic ergänzt in ihrem Beitrag Warum die Corona-Krise die Stunde der Frauen einläuten kann für die Frankfurter Rundschau: „Zu viele Frauen erleben gerade schmerzhaft: Das Verhältnis zwischen Männern und Frauen ist nicht von Natur aus, wie es ist, sondern weil die Gesellschaft und die Art, wie Gesellschaft sich organisiert, die Geschlechter in diese Rollen zwängt. Die Corona-Maßnahmen spiegeln dabei die Leitbilder unserer Gesellschaft wider.“ Kann man in dem klanglichen Erscheinungsbild der Pandemie auch etwas über die Genderrollen unserer Gesellschaft erfahren?

Man kann. Wenn ich im Folgenden den NDR Info-Podcast Coronavirus-Update mit Christian Drosten betrachte, liegt es mir fern, dessen Inhalte oder Existenz zu kritisieren, es ist vielmehr das Gegenteil der Fall. Zu einem Zeitpunkt, an dem die allermeisten Menschen zum ersten Mal in ihrem Leben eine Pandemie diesen Ausmaßes erleben, unter ungemeiner psychischer und finanzieller Belastung stehen, diverse Medienformate mit polemischen Schlagzeilen oder verkürzten Aussagen glänzen, und viele Details über das neuartige Virus immer noch unklar sind, halte ich eine Wissenschaftskommunikation, die fundiert informiert, aufklärt, einordnet, berät und immer wieder auf ungeklärte Fragen und sich verändernde Erkenntnisse hinweist, für unbedingt notwendig. Die Form, die das Team um die NDR Wissenschaftsredakteurinnen Korinna Hennig und Anja Martini[8] dafür gefunden hat, ist ein dreißig- bis fünfzig-minütiger Podcast, in dem sie zweimal in der Woche mit Christian Drosten sprechen, Lehrstuhlinhaber und Institutsdirektor an der Virologie an der Berlin Charité und führender Coronavirus-Forscher Deutschlands. Trotzdem oder gerade deshalb lohnt es sich zu fragen, inwieweit auch der Klang dieses Podcasts durch gesellschaftliche Bilder vorstrukturiert ist und inwieweit er normative Geschlechterbilder gesellschaftlich [mit-]reproduziert. Als Wissenschaftspodcast kann Coronavirus-Update dahingehend untersucht werden, welche Vorstellung er davon vermittelt, eine wissenschaftlich forschende Person in Deutschland zu sein. Ich stütze meine Analyse auf die Arbeit von L. J. Müller, die* sich in Sound und Sexismus[9] dem „Geschlecht im Klang populärer Musik“ aus einer feministisch-musiktheoretischen Perspektive annähert – und muss von dieser selbstsicheren Aussage eigentlich direkt zurückrudern, weil das, was ich im Folgenden skizzieren kann, lediglich einige Ideen der Wissenschaftlerin* übernimmt, in Komplexität und Tiefgang aber in keinster Weise an ihre* fundierte Analyse heranreicht. Zudem hat diese Form der Betrachtungen blinde Flecken: „Die Frage, wie sich Rassismus und Heteronormativität klanglich auswirken, ist wichtig und erfordert m.E. dringend eine Antwort, die ich hier jedoch nicht liefern kann.“[10]

Bernedetta Reuter NXNW Festival 2015 Foto: Daniel Mennicken

In jeder Podcastfolge sprechen Hennig und Drosten über Fragen wie: Wann könnte eine Verbreitung der Viren zum Stillstand kommen? Welche Folgen hat es, wenn das Virus seine Erbinformationen verändert? Wie sind verbesserte RKI-Zahlen zu lesen? Podcasts kann man als sonisch verstehen. Mit dem Oberbegriff beschreibt der Musikwissenschaftler Peter Wicke alle Formen von „kulturalisierte(m) Schall“[11] Schall, der kulturell kategorisiert und bezeichnet wird, also beispielsweise Musik oder eben: einen Wissenschaftspodcast. In die Kulturalisierung des Schalls wirken z.B. die Technologien, die ihn hervorbringen, aufzeichnen und speichern, oder auch die Erwartungen der Hörer*innenschaft[12]. Trotzdem ist dieser Klang nicht eindeutig konnotiert. Müller bemerkt dazu: „Jeder [klangliche] Moment kann eine uneindeutige Kette an Assoziationen auslösen, hat aber keine eindeutige denotative Bedeutung. Wie in Sprache sind diese Assoziationen teilweise sehr verbreitet, teilweise sehr persönlich und zum großen Teil vom Vorwissen […] bzw. von Vorurteilen und Vorannahmen, sowie vom jeweiligen Kontext abhängig.“[13]

Die erste Folge Coronavirus-Update wird am 26. Februar ausgestrahlt. Und auch, wenn sich Korinna Hennig und Christian Drosten mit den biografischen Informationen im Podcast vorstellen bzw. vorgestellt werden, treffe ich vor meiner Spotify-Desktop-App nicht ihre leiblichen Körper. Ich höre lediglich ihre Stimmen, die sich zu zwei vokalischen Körpern verdichten, also zu den Bildern, die ich mir als Hörerin von ihnen mache. Diese Unterscheidung mag kleinteilig wirken, sie ist aber zentral, da sich vokalische Körper von ‚wirklichen’ Körpern unterscheiden können. Nicht alles, was einen Körper auszeichnet, kann durch die Stimme transportiert werden. Andersherum ist es auch möglich, dass ich durch meine kulturelle Prägung mit bestimmen Klängen vokalische Körper assoziiere, die physisch anders beschaffen sind. Ein häufiger Kommentar, den beispielsweise Radiomoderator*innen hören, ist: „Ich habe mir Sie ganz anders vorgestellt!“

Ich höre in der Klanglichkeit der ersten Folge zwei klar geschlechtlich codierte Rollenbilder: Die akustischen Phänomene von und um Christian Drostens Stimme inszenieren das Bild des weltfremden, aber genialen Wissenschaftlers, das mir in unserer Gesellschaft weit verbreitet erscheint. Drostens Stimme ist tief und etwas leiser als die der Journalistin. In der Anordnung im Hörraum erscheint er daher weiter von mir entfernt als Hennig. Diese hörbare Distanz wird zudem durch die verwendete Mikrofonierung verstärkt.[14] Während Hennig eine professionelle Studioausstattung zur Verfügung hat und sehr voll, nah und präsent klingt, scheint Drostens Stimme von einem kleineren Mikrofon aufgezeichnet zu werden, das nicht fest installiert ist. Manchmal sind laute Ausatmer, Luftzüge oder Störgeräusche auf der Tonspur zu hören, wie sie etwa entstehen, wenn ein Stück Stoff über die Mikrofonoberfläche fährt oder es keinen Ploppschutz gibt. Manchmal wird die Stimme leiser, vermutlich weil Drosten seinen Kopf zur Seite und vom Mikrofon wegdreht. Als er beginnt abzuwägen, ob es sich aktuell um eine Pandemie handle, klickt er kurz – nervös? – mit einem Kugelschreiber. Als er den Münchener Fall erklärt, beginnt irgendwo im Raum ein Alarm zu piepen.

In dieser Klanglichkeit wird Drosten eindeutig als Wissenschaftler markiert. Er macht diese Aufnahme an seinem Arbeitsplatz, er ist immer noch im Einsatz und kann jeder Zeit aus seinem Büro zu dem Auslöser des Alarms gerufen werden. Darüber hinaus wird deutlich, dass er eben kein Medienprofi ist. Sowohl an der Ausstattung als auch an der routinierten Verhaltensweise vor dem Mikrofon mangelt es – auch wenn sich diese Routine in den nächsten Wochen einstellen wird. Trotz des unruhigen Hörraums, vermittelt Drostens vokalischer Körper, seine Stimmfarbe und sein Sprachduktus Ruhe und Besonnenheit. Er formuliert langsam und hat eine deutliche Aussprache, er hat eine zurückhaltende Sprachmelodie, die nur von sehr geringen Veränderungen in den Tonhöhen oder Lautstärke gekennzeichnet ist. Mit einer tiefen Männerstimme assoziiere ich in unserem Kulturraum Souveranität, Rationalität und Gewissheit. Diese Stimme spricht bedächtig, nimmt sich auch Zeit das Gesagte zu präzisieren und zu korrigieren. Diesem Wissenschaftler ist es möglich, die Lage der Nation unbeteiligt in den Blick zu nehmen. Er lässt sich nicht von seinen persönlichen Gefühlen leiten, sondern begegnet der Situation und auch mir als Hörerin mit einer Distanz, die ihn beinah zu einem Sprachrohr der Fakten machen.

Der sonische Auftritt des Wissenschaftlers im Podcast ist der eines Fachbereichsexperten. In dieser Rolle hat Drosten einen Wissensvorsprung gegenüber allen Nicht-Expert*innen auf diesem Feld, und dieser Unterschied wird auch klanglich hörbar. Sowohl inhaltlich als auch räumlich erscheint er weit[er] von allen Beteiligten entfernt. Diese Inszenierung könnte mit der westlichen Kulturfigur des Genies beschrieben werden, das immer auch eine Doppelrolle einnimmt. Zum einen befindet es sich [zumindest symbolisch] ganz klar außerhalb der Mainstreamgesellschaft, weil es außergewöhnliche Leistungen vollbringt, die viel Zeit und Anstrengung erfordern und daher nicht mit einem ‚normalen‘ oder  ‚ordinären’ Leben vereinbar sind. Man kann nicht international führender Experte für Coronaviren sein und um Punkt 17 Uhr den Stift fallen lassen, um Feierabend und Freizeit zu haben. Vermutlich kann man diese Biografie in unserer aktuellen Gesellschaft auch nur bedingt verfolgen, wenn man Sorgearbeit zu leisten hat, weshalb unser Bild von Genies tendenziell sehr männlich geprägt ist.[15] Zum anderen werden Genies trotz dieser Unterschiede zu Genies stilisiert, weil ihre angeblichen oder tatsächlichen Leistungen tiefe Einblicke in das Wesen der Menschheit und ihr Zusammenleben offenbaren – oder halt in die Frage, ob Kinder ansteckender sind als Erwachsene.

So selbstverständlich und natürlich dies alles erscheinen mag: Die symbolische Rahmung als Genie ist kulturell geformt. Sie funktioniert nur innerhalb bestimmter Kontexte und Gruppen, deren Wahrnehmungsbilder sie gleichzeitig bestärken und wieder hervorbringen. Zweifelsohne ist Christian Drosten ein ausgewiesener Experte auf seinem Gebiet. Aber in der gesellschaftlichen Wahrnehmung wird er das nicht, weil alle Menschen seine Veröffentlichungen lesen und kennen. Zum Genie – oder: Starvirologen – wird er ko-konstitutiv: Er ist der unglaublich bekannte Experte aus Coronavirus-Update und erscheint uns auch als solcher, weil er in anderen Medien vorkommt. Gleichzeitig kommt er in anderen Medien vor, weil er im Coronavirus-Update Experte ist. Trotz dieser medialen Präsenz muss ein Genie die Eigenlogiken von Podcast oder Zeitungen nicht verstehen oder befolgen. Sein Status als Genie wird sogar noch verstärkt, wenn er es nicht tut. Wenn Drosten nicht weiß, wie man professionell in ein Mikrofon spricht oder wer Julian Reichelt ist, belegt das vor allem: Er hat, und dies erläutert er sowohl im Podcast als auch über seinen Twitter-Kanal, – wortwörtlich – „Besseres zu tun“.

Unglaublich gut informiert, aber in einer ganz anderen Rolle, tritt Korinna Hennig in dieser Folge auf. Inhaltlich ist sie damit beschäftigt, das Gespräch zusammenzufassen, einzuordnen und dramaturgisch zu führen. Sie ist es, die die Verbindungen zur Hörer*innenposition herstellt, etwa indem sie deren vorab eingesendete Fragen aufgreift und die Ausführungen von Drosten für ein Laienpublikum erklärt. Diese Rolle spiegelt sich auch in ihrem Klang: Hennigs Stimme ist etwas höher und vor allem lauter als die von Drosten und erscheint mir in der klangräumlichen Anordnung sehr nah, beinah direkt in meinem Ohr. Ihre Mikrofonierung zeichnet feinteiliger alle noch so kleinen stimmlichen Betonungen auf: Die Veränderung der Klangfarbe je nach Themenbereich, Sprechgeschwindigkeit und auch die Momente, in denen sie kurz pausiert. Hennigs Stimme setzt dynamische Schwerpunkte, um die Vermittlung der Inhalte möglichst gut für ein Publikum aufzubereiten. Nachdem sie einen Sachverhalt abschließend besprochen haben, verstummt sie kurz. Eine Frage markiert sie, indem sie die Stimme am Satzende hebt. Das ist alles kein sprachliches Zauberwerk, aber durch diese klangliche Gestaltung unterstützt die Journalistin die wissenschaftlichen Inhalte mit einer akustischen Form und erhöht so deren Verständlichkeit. Die Rolle, die sie dabei einnimmt, ist die der Vermittlerin, die ebenfalls genauestens mit der Materie vertraut sein und dem Komplexitätslevel ihres Gegenübers gewachsen sein muss. Darüber hinaus ist sie aber auch dafür verantwortlich, sich um das Publikum zu sorgen: Während Drosten mehr oder weniger so sprechen kann, wie er es in seiner akademischen Sozialisation gelernt hat, leistet Hennig Transfer- und Übersetzungsarbeit, während sie gleichzeitig den Verlauf und die inhaltliche Dichte des Gesprächs im Blick behalten muss. Dieser Aufwand bleibt auf Ebene der Klangdimension unhörbar. Zu keinem Zeitpunkt wirkt Hennig angestrengt, gehetzt oder müde. Ihre Stimme erzeugt das Bild einer wachen, klar und schnell denkenden Journalistin, die Moderieren in unseren Ohren viel einfacher klingen lässt, als es tatsächlich ist.

Bernedetta Reuter NXNW Festival 2015 Foto: Daniel Mennicken

Zunächst höre ich in der Krise erst einmal nicht viel Neues: Wissenschaft klingt nach einem männlich dominiertem und gerahmtem Feld. Neue Musik-Kompositionen verfolgen entweder sehr entschlossen einen sehr konservativen Musikbegriff oder können sich wirklich nur mit großer Mühe ein realistisches Bild ihres Publikums machen.[16] Weibliche Sorgearbeit ist nicht hörbar oder erscheint so leicht, dass sie nicht ernstzunehmen ist oder als solche wahrgenommen wird. Große Gruppen sind nicht nur im Alltag zu vermeiden, auch klanglich fehlt es zur Zeit an Mehrstimmigkeit: Beim analogen Chorsingen ist die Ansteckungsgefahr zu groß, in der Digitalität stoßen Chorproben an ihre Grenzen. Auch Coronavirus-Update stellt vor allem zwei Akteur*innen in den Mittelpunkt, wenngleich Fragen von Hörer*innen und Ergebnisse anderer Wissenschaftler*innen Einzug in das Gespräch finden. Zudem prognostiziert Aida Baghernejad im Missy Magazine einen inhaltlichen Mangel an Diversität und sagt den möglichen Flop der queer-migrantischen Sängerin Rina Sawayama voraus, weil die Themen ihres Debütalbums SAWAYAMA trotz spannender Ästhetik nicht das inhaltliche Zeug zum Sound einer Pandemie haben.

Mittlerweile haben sich neue Klänge in die COVID-19 Soundscapes gemischt: Wir hören Protest, Unterdrückung, Gewalt und Widerstand. Am 25. Mai wird der 46jährige Afroamerikaner George Floyd in Minneapolis durch den Polizisten Derek Chauvin getötet, indem dieser 8 Minuten und 46 Sekunden lang sein Knie auf Floyds Hals presst. Auf dem Videos von Zeug*innen und den Überwachungskameras sieht man, dass niemand Chauvin abhielt. In der Nacht des 26. Mai beginnen Proteste in der Stadt und dauern an. In den folgenden Tagen setzt die Polizei Tränengas und Gummigeschosse[17] gegen die Menge ein. Erste Videos zeigen eingeschlagene Ladenfronten, Brände und Plünderungen. Am 27. Mai beginnen Proteste Memphis, Louisville, Brunswick und Los Angeles. Sie richten sich gegen die gewaltsamen Tötungen von George Floyd, Breonna Taylor und Ahmaud Arbery[18]. Seit dem 28. Mai ist in Minneapolis die Nationalgarde im Einsatz, am 1. Juni droht der US-Präsident mit dem Einsatz des Militärs gegen Protestant*innen. Der Klang der Pandemie hat sich verändert: Die leise Privatheit des Anfangs ist einem internationalen Aufschrei gegen Rassismus und Polizeigewalt gewichen. Auch in Deutschland wurden endlich die Betroffenen und Expert*innen gehört, die seit Jahrzehnten von deutschem Rassismus berichten, ihn erforschen und Anti-Rassismusarbeit leisten. Es ist unverzeihlich, dass es so viele Menschenleben kostete, um die Aufmerksamkeit einer weißen Mehrheitsgesellschaft zu erreichen. Aber es bleibt die verzweifelte Hoffnung, dass diese Reaktionen keine folgenlose Anteilnahme bleiben, dass Systeme und Staaten endlich diskutiert werden, dass Macht neu verhandelt wird, dass eine globale Pandemie letztlich doch dazu geführt haben könnte, dass wir eine neue Welt mit neuen Ohren hören werden. Immerhin: Der NDR erweitere bereits sein Angebot. Im Podcast Synapsen diskutieren Maja Bahtijarević und Lucie Kluth seit dem 22. Mai mehrstimmig und jede Woche mit unterschiedlichen Journalist*innen. Vielleicht ist das ein Anfang.

Svenja Reiner

 

Über die Autorin: Svenja Reiner ist Kulturwissenschaftlerin und Autorin. Sie lehrt in der Musikwissenschaft und forscht in ihrer Promotion über Neue Musik-Fandom.

[1] Breitsameter, Sabine (2018): „17 Soundscapes“, in: Daniel Morat, Hansjakob Ziemer (Hrsg.): Handbuch Sound. Geschichte – Begriffe – Ansätze. Stuttgart: J. B. Metzler, S. 89.

[2] ebd., a. a. O.

[3] Ob diese Videos wirklich nur eine Begrüßung darstellen und nicht vielmehr eine Art Konzerteinführung sein sollen, ein Paratext, dem das Werk verloren gegangen ist, könnte ebenfalls diskutiert werden.

[4] Thomas Köck (2020): „opera, opera, opera! revenants & revolutions. verschollener vierter teil der klimatrilogie – ein librettofragment für einen cyborg und einen singularitychor“, in: Theater der Zeit 5/2020, S. 38–50, hier S. 45.

[5] Sinnigste Erklärung in der Videobotschaft von „Transstimme“: „Alle diese elektroakustischen Instrumente sind in der Komposition von Fabià mit Hilfe der Orchestration kombiniert worden.“.

[6] Köck (2020: 45). Auch wenn an dieser Stelle der Eindruck entstehen könnte, dass Hübner und Köck ein Musiktheater über Musiktheater geschrieben haben, ist es beileibe nicht der Fall. „‚opera opera opera!‘ ist ein Rückblick auf die menschliche Zivilisation, wobei sich keine der Figuren so recht erinnern kann, was die Menschheit einmal war“, schreibt Dorte Lena Eilers zusammenfassend, und weiter: „Sich wertlos fühlen und keine Verantwortung für das eigene Handeln übernehmen – geht es deshalb mit der Zivilisation, Stichwort: Klima, bergab?“ (Theater der Zeit 5/2020, S. 36). Von diese Dystopie habe ich im Video relativ wenig erkannt, denn die rezitierenden Beteiligten standen in oder vor eher bekannten Kulissen (dunkle Tankstelle, leere Kirche, Stadtpanorama), aber vielleicht wies der metallisch klingende Gesang darauf hin, oder die absurd trashige und versucht ironische Szene am Ende des Videos, in der eine fahrige Frau vor laufender Kamera die Biennale absagt.

[7] Caroline Berghammer (2020): „Alles traditioneller? Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen in der Corona-Krise“, in: Universität Wien, Corona Blog, Blog 33, online unter: https://viecer.univie.ac.at/corona-blog/corona-blog-beitraege/blog33/ (letzter Zugriff 03.06.2020).

[8] Seit dem 14. April moderiert Hennig alleine die beiden wöchentlichen Sendungen. Daher fokussiert sich die folgende Analyse vor allem auf ihre Rolle.

[9] L. J. Müller (2018): Sound und Sexismus. Geschlecht im Klang populärer Musik. Eine feministisch-musiktheoretische Annäherung. Hamburg: Marta Press.

[10] a. a. O.: 12.

[11] Peter Wicke (2008): „Das Sonische in der Musik“, in: PopScriptum 10 – Das Sonische – Sounds zwischen Akustik und Ästhetik, S. 1–21, hier S. 3.

[12] Diese Erwartungshaltung wird wiederum von den Phänomenen geformt, die diesem Publikum bisher als ‚Podcast’ begegnet sind, und so weiter.

[13] L. J. Müller (2018: 61).

[14] Im Laufe der Produktion wird das Equipment von Drosten immer besser: In der aktuellem Folge vom 02.06.2020 ist die Lautstärke und Tonqualität der Sprecher*innen angeglichen. Jetzt gibt nur noch der Raumklang der beiden Stimmen (schallig bei Drosten, trocken bei Hennig) einen Anhaltspunkt darüber, dass sich beide Sprecher*innen an unterschiedlichen Orten und Aufnahmesituationen befinden.

[15] Dieser Umstand hat weniger damit zu tun, dass Männer keine Carearbeit leisten können sondern es einfach nicht tun. Der Gender Care Gap beträgt in Deutschland 52,4%, d.h. Frauen leisten mehr als doppelt so viel Sorgearbeit wie Männer. In den allermeisten Fällen ist diese unbezahlt, teilweise ist sie erzwungen. Diese Verteilung erscheint uns immer noch derart natürlich, dass sie in die kulturelle Rolle der Mutter unhinterfragt eingeschrieben ist und es zu digitalen Entrüstungsstürmen kommt, wenn Frauen sich darüber beschweren (vgl. https://twitter.com/ohneKlippo/status/1260103989187817473).

[16] Variante drei wäre, dass die Beteiligten bewusst alle Laien ausschließen wollen, aber ist eine haltlose Unterstellung, weshalb ich sie nur in der Fußnote erwähnen wollte. Nur 10% aller Leser*innen lesen Fußnoten. Das ist ebenfalls eine haltlose Unterstellung, aber Sie werden sie zum Glück nie lesen.

[17] Der Begriff „Gummigeschoss“ mag harmlos klingen, es ist aber bekannt, dass der Einsatz dieser Waffen gegen Menschen zu schweren Verletzungen, lebenslangen Behinderungen oder sogar zum Tod führen kann. (Vgl. Robin J. Haar, Vincent Iacopino, Nikhil Ranadive et al. (2017): „Death, injury and disability from kinetic impact projectiles in crowd-control settings: a systematic review“, in: BMJ Open 2017, online unter: https://bmjopen.bmj.com/content/7/12/e018154, letzter Zugriff: 06.06.2020)

[18] Die 26jährige Breonna Taylor wurde während der Durchsuchung ihres Hauses von Polizisten erschossen, der 25jährige Ahmaud Arbery wurde beim Joggen von einem ehemaligen Polizisten und seinem Sohn gejagt und erschossen.