Fraktale bilden durch das wiederholt angewendete Prinzip der Selbstähnlichkeit komplexe und einzigartige Strukturen. Die drei Komponisten und Musiker Benjamin Grau, Vincent Michalke und Philipp Lack haben ausgehend von den visuellen Formen ein Musikinstrument programmiert, das die mathematischen Prozesse auch in die musikalische Dimension überträgt. Im Rahmen der POLYMER – Reihe für Experimentalelektronik 2021 präsentieren sie ihr Projekt zum ersten Mal. Wir haben sie bei der Videoaufzeichnung zu einem Interview über Metadaten, Kontrolle und den kreativen Prozess zu dritt befragt.

Foto: Helene Heuser
Karl Ihr seid das erste Mal hier in Aktion als „Hackmeck“. Was verbindet Euch, wann habt ihr das Projekt begonnen?
Vincent Ja, das war letztes Jahr im Mai oder Juni als die Pandemie voll im Gange war. Da bin ich irgendwann auf die Idee gekommen, ein Laptop-Ensemble zu gründen. Etwas, das man dann möglicherweise auch nur über das Internet machen kann. Ich habe spontan an die beiden gedacht und einfach gefragt. Ich weiß gar nicht mehr wie ich angekommen bin…
Philipp Du hast es ziemlich klar beschrieben: ein Ensemble, das Metadaten herumschickt.
Benjamin [lacht] Klar für wen?
Philipp Ich habe sofort zugesagt, weil ich mir darunter direkt etwas vorstellen konnte.
Karl Was sind denn Metadaten. Du hast auch gesagt: ihr formt ein Metainstrument. Wie hängt das zusammen?
Vincent Das heißt grob gesagt, dass wir nicht die rohen Daten austauschen, also keinen Audio-Stream irgendwohin schicken. Sondern die Daten, die wir austauschen, sind auf einer gewissen Abstraktionsebene. Da geht es dann zum Beispiel um Skalen oder Formen, Strukturen und Klangfarben. Diese Daten schicken wir dann hin und her und die lösen dann bei jedem etwas Anderes aus.
Benjamin Aber wir spielen nicht jeder ein Instrument, sondern wir spielen alle an einem Instrument.
Karl Es geht also auch darum, ab einem gewissen Punkt die Kontrolle und den Zugriff auf bestimmte Parameter abzugeben?
Philipp Tatsächlich geht es bei Musik und insbesondere bei Komposition viel um Kontrolle. Aber das technische System, das wir erschaffen haben, hilft uns dabei das gewissermaßen zu organisieren. Wir werden teilweise selbst überrascht, was dabei herauskommt, und kuratieren dann eigentlich nur noch. Ich habe etwas weggegeben, der technische Apparat gibt etwas zurück und dann nicken wir in dem Augenblick nur noch ab, was aus dem Gesamtprozess heraus entstanden ist.
Vincent Ich empfinde diesen Prozess aber gar nicht so sehr als ein Gefühl von Kontrollverlust. Es ist eher ein positiv Überrascht-Werden. Man muss sich nicht um alle musikalischen Parameter kümmern, dabei kommt etwas Spannendes heraus, ohne dass man individuell so viel Arbeit hineinstecken muss.
Benjamin Ja, wobei… [Lachen] Die Programmierung alleine hat vier Monate gedauert. Dass wir in einer Programmiersprache arbeiten und eben nicht auf vorgefertigte Lösungen zurückgreifen, setzt ein unglaubliches Maß an Konzeption voraus: Was braucht man, was nicht? Was wollen wir machen und was nicht? Nur danach richtet sich, was mit diesen Tools dann auch möglich ist.
Philip Der Computer macht nur das, was man ihm sagt und hat darin alle Möglichkeiten. Das ist eigentlich das Problem: du musst dich am Anfang entscheiden, was Du willst, und dann mit dem Ergebnis leben, das zurück kommt.
Vincent Ich finde, es ist eine Balance dazwischen, einerseits genau vorzugeben, was klingen soll, und im anderen Extrem den Algorithmus einfach wild laufen zu lassen. Für mein Gefühl sind wir jetzt ganz gut dort angekommen, wo wir nicht alles per Hand komponiert haben – ganz und gar nicht – aber auch sehr viele Stellen so gezähmt haben, dass man sich das auch anhören mag, vielleicht.

Foto: Karl Ludwig
Karl Wenn der Computer diese Grenzen aufzeigt, gerät man ja in eine eigenartige Position, oder?
Benjamin Das macht total was mit einem, weil man eine sehr begrenzte musikalische Ausdrucksmöglichkeit hat. Fraktale klingen sehr häufig einfach wie Achtelketten oder Bachscher Kontrapunkt. Ich bin da gar kein Fan von, das ist ein ganz großer Konfliktpunkt.
Helene Das muss man dem Programm dann austrainieren?
Benjamin Genau. Sachen wie Phrasierung werden auf einmal wichtig. Wie kriegt man diesen Algorithmus dazu, dass er in irgendeiner Form phrasiert oder bestimmte Schwerpunkte setzt, die nicht so unfunky sind.
Helene Das hört sich teilweise an, also würden Computer Jazz spielen. Schon rhythmisch, aber algorithmisch rhythmisch. Es hat so einen „Swing“, aber der ist überhaupt nicht menschlich.
Benjamin Ja, das ist total witzig: Man programmiert da irgendetwas in seinem Kopf und hat verschiedene musikalische Strukturen erarbeitet. Dann kommen die Tonhöhen hinzu und alles verhält sich total anders. Im einen Teil nach Steve Reich und total gut, im anderen wie irgendein Vampir an der Orgel und super unangenehm.
Helene Als würde man ein Instrument bauen und gucken, was das kann.
Benjamin Ja, nur ist das eben keine Gitarre, sondern es ist eine Gitarre, die schreibt ihr eigenes Stück. Und dann sag ich „Nein, spiel das bitte anders.“
Helene Genau, man trainiert dieses Instrument…
Philipp Wenn du eben sagtest „die Grenzen des Computers“, würde ich das umdrehen: der Computer macht nur das, was man ihm sagt und hat alle Möglichkeiten. Und das ist eigentlich das Problem: du musst dich am Anfang entscheiden, was Du willst und dann mit dem leben, was zurückkommt.
Karl Welche Rolle nimmt das Visuelle dann in dieser Konstellation ein?
Vincent Konzeptionell eigentlich eine ziemlich große, weil wir uns wünschen, dass dieser Prozess, der die Musik generiert, nicht eine Blackbox ist, in der niemand merkt, wann sich Dinge ändern. Es soll möglichst deutlich gemacht werden, welche Strukturen und Prozesse sich abspielen, deshalb ist das Visuelle auch sehr plakativ.
Karl Sag doch nochmal, wie sieht dieses Material aus?
Helene Das sind Striche, die sich zu komplexen Strukturen verbinden. Du hast einen Block, dann kommt einer dazu und so baut sich das immer weiter auf.
Vincent Wir verwenden eben diese Fraktale. Die werden sehr häufig für Visualisierungen von Bäumen oder anderen natürlichen Sachen benutzt, weil die sich eben so verästeln. Bei der Visualisierung ist das ursprünglich so, dass es Regeln gibt, die sagen „jetzt geht der Strich nach vorne“ und dann kommt ein neuer Ast, der genau dasselbe Muster hat, nur kleiner. Das habe ich dann erstmal sehr direkt auf den Sound übertragen, indem es also erstmal eine Note gibt, die den Stamm darstellt, dann gibt es einen Ast und der ist eine Oktave höher, aber spielt dieselbe Melodie wie der Stamm. Und das geht immer so weiter.
Karl Ihr sprecht von „Komponieren“, aber es ist ja nicht das ganze Ding schon fertig, sondern ein live Prozess. Insofern ist ja die Grenze zur Improvisation recht fließend, wenn es auch um Interfaces und darum geht, wie ihr auf diesen Code, dieses Programm zugreift. Ist es so klar, dass ihr komponiert?
Benjamin Also in diesem Falle ist es relativ determiniert durch die Fraktale. Aber das ist eine Frage, die sich ergibt. Wenn wir mit Controllern arbeiten, macht es mehr Sinn auch mehr Freiräume für uns zu schaffen. Die gibt es jetzt auch, aber dadurch, dass man eine bestimmte Form hat, die schon aus musikalischen Motiven besteht, macht es für mich Sinn, sich eine gewisse Dramaturgie zu überlegen: Da will ich mehr Obertöne haben, dann gehen die zurück, dann kommen sie wieder hinein, usw. Das ist dann auch irgendwie determiniert. Das schreibe ich mir auf und dann ist es Teil des Kompositionsprozesses. Das heißt, ich improvisiere gar nicht so stark, vielleicht minimal „Wie schnell bewege ich den Regler?“, aber das ist für mich keine Improvisation.
Philipp Tatsächlich ist uns auch schon der Gedanke gekommen, dass wir mit künstlicher Intelligenz arbeiten wollen. Das ist ein Visualisierungsprojekt. Ob das wirklich umzusetzen wäre, steht aber noch in den Sternen.

Foto: Karl Ludwig
Benjamin Ja, mehr Zusammenarbeit ist geplant. Aber Programmieren ist ein iterativer Prozess. Wir finden jetzt raus „Was hat funktioniert, was nicht?“, „Was für weitere Ansatzpunkte hätten wir gern?“, „Wie soll das umgesetzt werden?“, „Was war super umständlich, was war gut in der Bedienung?“. Dadurch entwickelt sich das eben.
Helene Ihr nennt Euch „Ensemble“, aber seid ja eigentlich nur zu dritt…
Vincent Wir sind uns nicht so ganz sicher, wie wir uns nennen sollen. „Ensemble“ oder „Trio“ rutscht manchmal so raus.
Benjamin Das sind ja auch so Neue Musik-Bezeichnungen. In Gesprächen mit den Videoleuten, auch für das Projekt, das im September aufgezeichnet werden wird, fiel immer der Begriff „Boyband“
Philipp [Lacht] Deswegen sind wir auch heute in Uniform gekommen…
Benjamin Ich weiß nicht. Wir machen zu dritt Musik, eben wirklich in der Gruppe, sodass es eigentlich eher ein Bandprozess ist, bei dem man zusammenkommt und gemeinsam an etwas arbeitet. Vor allen Dingen bei den Programmierarbeiten muss man einfach ein Konzept entwickeln, wie man das ganze umsetzen will, was die Rahmenbedingungen sind und was überhaupt die Zielsetzung ist. In diesem kreativen Prozess jeden Schritt gemeinsam zu gehen und sich auch um eine Konsensbildung zu bemühen, ist glaube ich total zentral. Deswegen eben „Ensemble“ und vielleicht auch ein bisschen „Boyband“.
Das Gespräch führten Karl Ludwig und Helene Heuser